Wie bewusst entscheidest du? -über das Problem der Mehrheitsentscheidungen

An der Qualität und Nachhaltigkeit einer Gruppenentscheidung lassen sich viele Rückschlüsse über den Grad der psychologischen Sicherheit und Reife der Einzelnen und der Gesamtgruppe ablesen. Die Form der Mehrheitsbeschlüsse ist besonders geeignet für Entscheidungen, die eine komplexe Informationslage haben und deren Ergebnis langfristig getragen werden soll.

Häufig erlebe ich in Teams und Organisationen, dass Entscheidungsprozesse intransparent sind und viel unausgesprochener Frust darüber existiert, wer wie was entschieden hat. Es entstehen Gräben des Misstrauens und der Zurückhaltung zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden. Was ich auch häufig erlebe, ist folgende Situation: Eine neu zusammengewürfelte Gruppe will sich auf ein Kommunikationsmedium einigen. Person A möchte Slack, Person B will Telegram, Person C legt vor allem Wert auf Datensicherheit, Person D will einfach das, was Person A will, weil sie meistens verlässliche Ideen hat, und mindestens eine Person denkt sich: „Ich nehme das, was alle wollen, oder ich sage vielleicht etwas am Schluss“. Genau hier entsteht die gefährliche, intransparente Grauzone, die Enthaltungen bzw. Zurückhaltungen haben. Solange sie nicht explizit sind, können sie versteckte Ressentiments oder Meinungen beinhalten. In meiner Erfahrung bergen insbesondere die impliziten Enthaltungen das essenziellste Potential für die beste Entscheidung in einer Gruppe.

Gute und nachhaltige Gruppenentscheidungen hängen nicht nur von effektiver Moderation ab, sondern vor allem von einer reifen Beziehungskultur. Ich sehe mich häufig um und denke, es gibt so viel Kommunikation, die nicht stattfindet. Meinungen, Gefühle oder Wahrnehmungen, die nicht geäußert werden, oder das andere Extrem, als Machtinstrument absichtlich vorenthalten werden.

Woran liegt das? Es liegt nicht an mangelndem Wollen, Boshaftigkeit oder Dummheit, sondern daran, dass wir häufig nicht gelernt haben, Bedürfnisse zu adressieren und auszuhandeln, geschweige denn, andere darin zu unterstützen. Wir kommen aus einer sehr beziehungsunsicheren Kultur, die geprägt ist von zwischenmenschlicher Dominanz. Es geht nicht darum, wirklich gehört zu werden oder zuzuhören, sondern darum, Recht zu haben. (Vgl. Marshall Rosenberg) Für die meisten Menschen ist es normal, sich innerlich zurückzuziehen und den Beziehungsraum zu verlassen, wenn ihnen eine Situation nicht gefällt oder sie überfordert sind. Frust, Stress und Dysregulation werden innerlich heruntergeschluckt und festgehalten, anstatt in Bewegung und in Beziehung gebracht zu werden.

Betrachtet durch die Perspektive der biopsychologischen Reifeentwicklung, ist es ein Grundbedürfnis, den eigenen Willen zu entdecken und zu entwickeln. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das beim Kind die „Trotzphase“ genannt. Auch hier zeigt sich subtil, dass es viele Kontexte gibt, in denen das Individuum nicht darin unterstützt wird, eine eigene subjektive Position zu entwickeln und in Beziehung zu bringen. Anpassung wird erwartet, Reserviertheit ist höflich und Authentizität peinlich. Dadurch gibt es viele Menschen, die so sehr daran gewöhnt sind, dass sie keine Stimme haben, dass sie gar nicht auf die Idee kommen würden, sie könnten eine eigene wertvolle Perspektive haben, geschweige denn diese einbringen. (Vgl. Laurence Heller)

Ein Entscheidungssystem, das langfristig nicht alle einzelnen Stimmen integriert, birgt die Gefahr, dass sich ein Teil der Gruppe abwendet und sich zurückzieht. Somit geht auch die Intelligenz und das Potential dieses Gruppenteils verloren. Im Prinzip wird das gesamte System unintelligenter, weil es die Beziehung zu den Perspektiven der Einzelnen verpasst. Das Innovationspotential eines Teams oder einer Organisation geht verloren. (Vgl. Peter Kruse)

Daher ist es insbesondere bei jungen Gruppen oder Teams, in denen es unaufgearbeitete Konflikte gibt, sehr wichtig, die Entscheidungen nachzuhalten und dafür zu sorgen, dass die nicht integrierten Perspektiven Gehör finden und berücksichtigt werden. Gleichzeitig braucht es den gezielten Aufbau und die Pflege einer vertrauensvollen Kommunikationskultur. Denn erst mit steigender psychologischer Sicherheit werden Einzelne in einer Gruppe wirklich offen für effektivere Entscheidungsformen wie beispielsweise Delegation. Eine gute Entscheidungsform und ein ganzheitlicher Entscheidungsprozess erkennen sich daran, dass der Grad der Bezogenheit unter den Gruppenmitgliedern sich dadurch nicht verändert oder im besten Falle sogar steigt.

Jetzt kann ich mich natürlich darauf ausruhen, dass “die da oben” mir keine Chance geben, gehört zu werden und mit verschlossenen Armen im Wartemodus bleiben. Mit dem Wissen, dass wir alle lernen müssen, besser zuzuhören und beziehungsfördernde Entscheidungen zu treffen, bleibt es an jedem/r von uns, die eigene Perspektive sichtbar zu machen und sich anderen anzuvertrauen – liebevoll, neugierig und in dem Maß, das sich gerade „sicher genug“ anfühlt.

 

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Wie führe ich in die Führung

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Ist es egoistisch sich in der Krise um sich zu kümmern?